Otto Wohlgemuth 2016
Johannes Pestalozzi (1837-1907)
Domänenpächter mit berühmtem Namen

Vorstand, Aufsichtsrat und Rechner des Altmorscher Darlehnskassenvereins.
Mit Stock: Johannes Pestalozzi
 
(Foto aus: 100 Jahre Raiffeisenbank Morschen)


Die Pestalozzistraße am Altmörscher Friedhof erinnert an einen der schillerndsten Pächter der Domäne Haydau: Johannes Pestalozzi, Amtmann und Major im Schweizer Bundesheer, wurde im Herbst 1881 Nachfolger des verstorbenen Pächters Georg Henkel. Pestalozzis Vater, der Züricher Seidenfabrikant Johannes Pestalozzi, war ein entfernter Verwandter des Schweizer Sozialpädagogen Heinrich Pestalozzi. Als Johannes Pestalozzi mit seiner Frau Lilli in das Herrenhaus einzog, war er 44 Jahre alt. Seine Spuren sind in Altmorschen bis heute sichtbar geblieben und zeigen, dass er, wie sein berühmter Namensvetter, geprägt war von tiefer Religiosität und ausgeprägtem sozialen Denken und Handeln.

Johannes Pestalozzi nahm den Gedanken der Raiffeisenbewegung auf, war einer der Gründerväter und auch erster Vorsitzender des hiesigen Darlehensvereins, der jetzigen VR-Bank. In seiner Zeit entstand die im Volksmund so genannte obere und untere "Kolonie" in der damaligen Bahnhofstraße, eine Arbeitersiedlung für die Bediensteten mit insgesamt acht Wohnungen und dazu gehörenden Kleinställen. Ihm ist es zu verdanken, dass die Altmörscher Kinder eine Bademöglichkeit an der Fulda bekamen - dort, wo noch bis in die 1970er Jahre viele Altmörscher das Schwimmen lernten. Vermutlich hat er auch die Fenster im Altarraum der Klosterkirche gestiftet. Pestalozzi sorgte auch für außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze in Altmorschen: Im jetzigen Raiffeisengelände zwischen Kloster und Bahn ließ er eine Rübensaftfabrik (s. Foto ganz unten) eine Rohrweberei (i) und einen Kalkofen bauen. Der Kalk wurde am Kapellberg abgebaut und von dort - vermutlich mit Pferdegespannen - zum Brennofen gefahren. Und 1890 ließ er im Refektorium eine Molkerei 
einrichten, aus der später die Molkereigenossenschaft Haydau hervorging (siehe Fotos weiter unten). Dass seine Frau 1894 die Patenschaft des Kindes seines Kutschers Johann Christoph Hühner übernahm, rundet das Bild über die Pestalozzis ab..


(i) Das Handwerk der Rohrweberei hat im Bereich der Havel eine jahrtausendealte Tradition. Werkstoff für das Weben ist geerntetes Schilfrohr, aus dem beispielsweise Schilfrohrmatten gewoben werden. Was in früheren Jahrhunderten in reiner Handarbeit gefertigt wurde, konnte später unter Verwendung spezieller Webstühle hergestellt werden.

Neben seinem Wirken vor Ort machte Johannes Pestalozzi sich bis nach Berlin einen Namen als Kritiker der damaligen Kirchenorganisation. Waltari Bergmann erwähnt in seinem Buch "Tausendjähriges Morschen" (S.408), dass ihm der gedruckte Brief Pestalozzis vom 22.Juli 1889 an Kaiser Wilhelm II. vorgelegen hat. " Hierin kämpfte er sehr mutig und kaisertreu gegen eine neue staatliche Kirchenverfassung mit den Landesfürsten als Bischöfe."
In einem Rundbrief ruft er im Jahr 1892 Freunde auf, zu einer Versammlung nach Hannover zu kommen, um eine von den politischen und kirchlichen Blättern unabhängige Zeitschrift herauszugeben. Ein Grußwort vor der "Wanderversammlung des landwirtschaftlichen Zentralvereins in Kassel" 1884 dokumentiert seine Geisteshaltung: Steter Fortschritt ist erforderlich, muss aber auf dem Bestehenden aufbauen. Das gilt nicht nur für das Christentum, sondern auch für die Landwirtschaft. Seine Berufskollegen, die Pächter und Eigentümer größerer landwirtschaftlicher Betriebe, mahnt er sich "
eng zusammenzuschließen, damit einer den anderen mit seiner tieferen Einsicht, seiner reiferen Erfahrung und seinem weiteren Blick unterstütze." Nachhaltig in Erinnerung geblieben ist er auch dem Preußischen Kultusminister Robert Bosse. Den interessierten - so schreibt er in seinen Lebenserinnerungen - "einige Schriften des Oberamtmannes Pestalozzi in Haydau bei Altmorschen, eines tüchtigen Laien, der mit dem Evangelium ernst machte, aber durch seinen Subjektivismus und eine leicht erregbare persönliche Schroffheit auch mit solchen Leuten in Konflikt geriet, mit denen er in der Hauptsache auf gleichem Boden stand. Sein Buch: "Antichristentum in alter und neuer Zeit" (Leipzig 1887 bei Grunow) wendete sich mit ausgeprägtem Wahrheitssinn von einem positiv gläubigen, subjektiven Erfahrungsstandpunkte aus gegen die Stöckerschen Kirchenideale und die von Hammersteinschen Selbständigkeitsgedanken. Eine andere Schrift desselben Verfassers "Ein Wort über hirtenamtliche Arbeiterorganisation" bekämpfte mit guten Gründen die damals in den hochkirchlichen Kreisen vielfach spukende bischöfliche Organisation der evangelischen Kirche. So ehrlich Pestalozzi es meinte, so waren das doch handgreifliche unpraktische Träumereien, dass sich damit nichts anfangen ließ." (Quelle: Volker Mihr u.a.: Sozialreform als Bürger- und Christenpflicht. Aufzeichnungen, Briefe und Erinnerungen des leitenden Ministerialbeamten Robert Bosse, Stuttgart 2005, S. 283 f.)

Der Abschied Johannes Pestalozzis aus Altmorschen war sicher schmerzhaft für ihn und seine Frau. Das Pachtverhältnis endete durch seinen wirtschaftlichen Ruin. Waltari Bergmann hat festgehalten: "Was zum Segen für den Ort und die Wirtschaft des Raumes geworden wäre, das wurde laut Zeugenaussagen durch "ungetreue Knechte und Diener dem gutmütigen, vertrauensseligen Menschenfreund gestohlen" und er um Hab und Gut gebracht. 1900 wurde alles zwangsversteigert, das Gelände erwarb Raiffeisen."

Die Pestalozzis zogen in den Stuttgarter Raum. Hier starb er am 6.April 1907. Aus der Ehe gingen keine Kinder hervor. Nachgewiesen in der genealogischen Studie von Dr. Emil Pestalozzi-Pfyffer über "Die Familie Pestalozzi" (Zürich 1878 bei Orell Füßli) ist die Adoptivtochter Maria Julie (Gertrud), vorm. Dimme, geb. 1877.

aus: Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg vom 8.4.1907


 Ausschnitt aus der genealogischen Studie von Dr. Emil Pestalozzi-Pfyffer über "Die Familie Pestalozzi" (Zürich 1878 bei Orell Füßli)


vergrößern: Dokument anklicken!



Frauen und Männer der Rohrweberei

Die "Kolonie" unter Wasser bei den Unwettern 1956 und 1961



Aus der "Rübensaftfabrik Altmorschen"