Johannes Pestalozzi (1837-1907)
Domänenpächter mit berühmtem Namen
Vorstand, Aufsichtsrat und Rechner des Altmorscher Darlehnskassenvereins.
Mit Stock: Johannes Pestalozzi (Foto aus: 100 Jahre Raiffeisenbank Morschen)
Die Pestalozzistraße am Altmörscher Friedhof erinnert an einen der
schillerndsten Pächter der Domäne Haydau: Johannes Pestalozzi, Amtmann
und Major im Schweizer Bundesheer, wurde im Herbst 1881 Nachfolger des
verstorbenen Pächters Georg Henkel. Pestalozzis Vater, der Züricher
Seidenfabrikant Johannes Pestalozzi, war ein entfernter Verwandter des
Schweizer Sozialpädagogen Heinrich Pestalozzi. Als Johannes Pestalozzi
mit seiner Frau Lilli in das Herrenhaus einzog, war er 44 Jahre alt.
Seine Spuren sind in Altmorschen bis heute sichtbar geblieben und
zeigen, dass er, wie sein berühmter Namensvetter, geprägt war von
tiefer Religiosität und ausgeprägtem sozialen Denken und Handeln.
Johannes Pestalozzi nahm den Gedanken der Raiffeisenbewegung auf, war
einer der Gründerväter und auch erster Vorsitzender des hiesigen
Darlehensvereins, der jetzigen VR-Bank. In seiner Zeit entstand die im
Volksmund so genannte obere und untere "Kolonie"
in der damaligen Bahnhofstraße, eine Arbeitersiedlung für die
Bediensteten mit insgesamt acht Wohnungen und dazu gehörenden
Kleinställen. Ihm ist es zu verdanken, dass die Altmörscher Kinder eine
Bademöglichkeit an der Fulda bekamen - dort, wo noch bis in die 1970er
Jahre viele Altmörscher das Schwimmen lernten. Vermutlich hat er auch
die Fenster im Altarraum der Klosterkirche gestiftet. Pestalozzi sorgte
auch für außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze in Altmorschen: Im
jetzigen Raiffeisengelände zwischen Kloster und Bahn ließ er eine Rübensaftfabrik (s. Foto ganz unten) eine Rohrweberei (i) und einen Kalkofen
bauen. Der Kalk wurde am Kapellberg abgebaut und von dort - vermutlich
mit Pferdegespannen - zum Brennofen gefahren. Und 1890 ließ er im Refektorium eine Molkerei
einrichten, aus der später die Molkereigenossenschaft Haydau hervorging
(siehe Fotos weiter unten). Dass seine Frau 1894 die Patenschaft des
Kindes seines Kutschers Johann Christoph Hühner übernahm, rundet das
Bild über die Pestalozzis ab..
(i) Das Handwerk der Rohrweberei hat im Bereich der Havel eine jahrtausendealte Tradition. Werkstoff für das Weben ist geerntetes Schilfrohr,
aus dem beispielsweise Schilfrohrmatten gewoben werden. Was in früheren
Jahrhunderten in reiner Handarbeit gefertigt wurde, konnte später unter
Verwendung spezieller Webstühle hergestellt werden.
Neben seinem Wirken vor
Ort machte Johannes Pestalozzi sich bis nach Berlin einen Namen als
Kritiker der damaligen Kirchenorganisation. Waltari Bergmann erwähnt in
seinem Buch "Tausendjähriges Morschen" (S.408), dass ihm der gedruckte
Brief Pestalozzis vom 22.Juli 1889 an Kaiser Wilhelm II. vorgelegen
hat. "
Hierin kämpfte er sehr mutig und kaisertreu gegen eine neue staatliche Kirchenverfassung mit den Landesfürsten als Bischöfe."
In einem Rundbrief ruft er im Jahr 1892 Freunde auf, zu einer
Versammlung nach Hannover zu kommen, um eine von den politischen und
kirchlichen Blättern unabhängige Zeitschrift herauszugeben. Ein
Grußwort vor der "Wanderversammlung des landwirtschaftlichen
Zentralvereins in Kassel" 1884 dokumentiert seine Geisteshaltung:
Steter Fortschritt ist erforderlich, muss aber auf dem Bestehenden
aufbauen. Das gilt nicht nur für das Christentum, sondern auch für die
Landwirtschaft. Seine Berufskollegen, die Pächter und Eigentümer
größerer landwirtschaftlicher Betriebe, mahnt er sich "eng
zusammenzuschließen, damit einer den anderen mit seiner tieferen
Einsicht, seiner reiferen Erfahrung und seinem weiteren Blick
unterstütze." Nachhaltig in Erinnerung geblieben ist er auch dem Preußischen Kultusminister Robert Bosse. Den interessierten - so schreibt er in seinen Lebenserinnerungen - "einige
Schriften des Oberamtmannes Pestalozzi in Haydau bei Altmorschen, eines
tüchtigen Laien, der mit dem Evangelium ernst machte, aber durch seinen
Subjektivismus und eine leicht erregbare persönliche Schroffheit auch
mit solchen Leuten in Konflikt geriet, mit denen er in der Hauptsache
auf gleichem Boden stand. Sein Buch: "Antichristentum in alter und
neuer Zeit" (Leipzig 1887 bei Grunow) wendete sich mit ausgeprägtem
Wahrheitssinn von einem positiv gläubigen, subjektiven
Erfahrungsstandpunkte aus gegen die Stöckerschen Kirchenideale und die
von Hammersteinschen Selbständigkeitsgedanken. Eine andere Schrift
desselben Verfassers "Ein Wort über hirtenamtliche
Arbeiterorganisation" bekämpfte mit guten Gründen die damals in den
hochkirchlichen Kreisen vielfach spukende bischöfliche Organisation der
evangelischen Kirche. So ehrlich Pestalozzi es meinte, so waren das
doch handgreifliche unpraktische Träumereien, dass sich damit nichts
anfangen ließ."
(Quelle: Volker Mihr u.a.: Sozialreform als Bürger- und
Christenpflicht. Aufzeichnungen, Briefe und Erinnerungen des leitenden
Ministerialbeamten Robert Bosse, Stuttgart 2005, S. 283 f.)
Der Abschied Johannes Pestalozzis aus Altmorschen war sicher
schmerzhaft für ihn und seine Frau. Das Pachtverhältnis endete durch
seinen wirtschaftlichen Ruin. Waltari Bergmann hat festgehalten: "Was
zum Segen für den Ort und die Wirtschaft des Raumes geworden wäre, das
wurde laut Zeugenaussagen durch "ungetreue Knechte und Diener dem
gutmütigen, vertrauensseligen Menschenfreund gestohlen" und er um Hab
und Gut gebracht. 1900 wurde alles zwangsversteigert, das Gelände
erwarb Raiffeisen."
Die Pestalozzis zogen in den Stuttgarter Raum. Hier starb er am 6.April
1907. Aus der Ehe gingen keine Kinder hervor. Nachgewiesen in der
genealogischen Studie von Dr. Emil Pestalozzi-Pfyffer über "Die Familie
Pestalozzi" (Zürich 1878 bei Orell Füßli) ist die Adoptivtochter Maria
Julie (Gertrud), vorm. Dimme, geb. 1877.
aus: Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg vom 8.4.1907
Ausschnitt
aus der genealogischen Studie von Dr. Emil Pestalozzi-Pfyffer über "Die
Familie Pestalozzi" (Zürich 1878 bei Orell Füßli)
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